Redaktion. Prof. Dr. Wolf Singer, 66, leitet das Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt. Er gilt als einer der bekanntesten Hirnforscher Deutschlands und ist Mitglied der päpstlichen Akademie der Wissenschaften. Seine Themen reichen vom Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften, über die Unverzichtbarkeit der Tierversuche, den Nutzen der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft, für die Erziehung und für die Wertschätzung der Kunst, bis hin zu Vorschlägen zur Stadtentwicklung. Die größte Herausforderung seiner boomenden Disziplin sieht Singer darin, die Erklärungslücke zwischen neurobiologischen Erkenntnissen und menschlichem Verhalten zu schließen.
Wolf Singer warnt vor seiner eigenen Argumentation. Aber er ist davon überzeugt, dass wir zur Erklärung des Bewusstseins die Basis der Naturgesetze nicht verlassen müssen. Neuronale, komplexe Systeme reichen aus.
Das Video zeigt einen Ausschnitt aus dem Vortrag “In unserem Kopf geht es anders zu, als es uns scheint” von Prof. Wolf Singer beim Symposium turmdersinne 2013 mit dem Thema „Bewusstsein“, veranstaltet von der gemeinnützigen turmdersinne GmbH, Programmgestaltung durch Dr. Rainer Rosenzweig und Helmut Fink
Wolf Singer erklärt, warum das Gehirn sich oft täuscht, wie man seine Aufmerksamkeit trainieren kann und wie LSD das Bewusstsein verändert.
Interview: Kristin Rübesamen
London, ein Kongresshotel am Regent’s Park. Draußen vor der Tür Pollenalarm und Dauerhupen, drinnen in der Lobby Musik, wo man geht und steht. Nur einer findet auf Anhieb eine ruhige Ecke: Wolf Singer, Deutschlands bekanntester Neurobiologe. Groß, schlank, elegant, weltmännisches Auftreten. Routiniert bestellt er “Tea for two”. Was für eine Überraschung, als sich sein Gesicht auf einmal in ein frohes Grinsen auseinanderzieht. Haben Hirnforscher tatsächlich viel zu lachen?
Süddeutsche Zeitung: Herr Singer, wie fühlt es sich an, ein drei Pfund schweres, festes Gelee, das denken kann, in der Hand zu halten?
Wolf Singer: Als Mediziner bekommt man so ein Gehirn, außer vielleicht in der Pathologie, eigentlich nie unfixiert in die Hand. Wenn, dann ist es in der Regel vorher in Formalin eingelegt gewesen, dadurch wesentlich fester als in vivo.
SZ: Manche vergleichen es mit einem weichen Ei …
Singer: Vielleicht machen die Leute sich eher einen Begriff, wenn sie daran denken, wie sich Lunge anfühlt oder Leber. Das kennt man ja, weil man es beim Metzger kaufen kann. Das Gehirn hat eine ähnliche Konsistenz wie die Leber. Wenn man es als lebendiges Organ betrachtet, auf dem Operationstisch, unter dem Operationsmikroskop, dann besticht es durch seine Sauberkeit. Es ist ganz hell, glänzt, man erkennt die feinen Gefäße über der Großhirnrinde, in der Vergrößerung sieht man auch die Blutkörperchen durchziehen. Insgesamt macht es einen außerordentlich aufgeräumten, blitzsauberen Eindruck.
SZ: Ihre Stimme klingt zärtlich. Man hält ein Gehirn also eher mit Ehrfurcht als mit Achselzucken in der Hand?
Singer: Auf jeden Fall mit Ehrfurcht.
SZ: Das männliche Gehirn ist wohl nicht zufällig etwas weicher als das weibliche?
Singer: Das ist Unsinn. Vielleicht haben die Hirnhäute eine leicht andere Konsistenz, aber männliche und weibliche Gehirne haben eine völlig gleiche Substanz und Struktur: unzählige Nervenzellen, die miteinander zu einem dichten Netzwerk verknüpft sind.
SZ: Wir Menschen hängen an der Vorstellung, dass wir einen freien Willen haben. Diesen Glauben hat uns die Hirnforschung genommen. Wie also treffen wir dann Entscheidungen?
Singer: Im Gehirn gibt es Bewertungszentren, die fortwährend Erfahrungen und Zukunftsszenarien zusammenrechnen und die Ergebnisse auf ihre Stimmigkeit hin überprüfen. Das muss nicht immer zu optimalen Lösungen führen. Diese Zentren können sich durchaus täuschen, sie sind kein allwissender Beobachter.
SZ: Und wie Sie in Ihrem Buch “Der Beobachter im Gehirn” erklären …
Singer: Es gibt eben nicht den einen Ort im Gehirn, an dem alle Informationen zusammenlaufen, wo die Sinnessignale einheitlich interpretiert werden, wo Entscheidungen fallen, wo die Zukunft geplant wird, wo das Ich sich konstituiert. Das ist die Lehre, die wir aus den neurobiologischen Erkenntnissen der letzten Jahrzehnte gezogen haben. Das Gehirn macht sich faszinierenderweise völlig falsche Vorstellungen über seine Verfasstheit.
SZ: Diese Erkenntnis kam nicht bei jedem gut an: Sie haben damit einen ziemlichen Wirbel verursacht und sich einen Rüffel von Jürgen Habermas geholt.
Singer: Das war auf einem Philosophenkongress in Essen, auf dem ich abends erzählt habe, wie wir Neurobiologen glauben, dass das Gehirn funktioniert. Das hat vor allem die Journalisten beunruhigt, die das dann später polemisch als Angriff auf das Selbstverständnis der Menschen und die Würde des Abendlandes wiedergegeben haben. Viele wollen halt die Welt anders sehen. Sie wollen die Unabhängigkeit des Geistigen, der Entscheidung und des Willens. Und das Gehirn als materielles Substrat soll dann lediglich ausführen, was der Wille vorgibt.
SZ: Nicht nur wir Journalisten verzichten ungern auf unseren freien Willen …
Singer: Den gibt es aber nun mal aus der Sicht der Neurobiologen nicht, so wie wir uns das wünschen. Bei uns muss der neuronale, materielle Prozess vorgängig sein. Dazu gehört der Zustand des Körpers, ob der Zuckerspiegel hoch oder niedrig ist, gehören Argumente, die in neuronale Aktivität übersetzt werden müssen, um zu wirken. Dazu gehört auch alles, was im Gedächtnis abgespeichert ist, wie die moralisch-ethischen Inhalte, die sich als gutes oder schlechtes Gewissen manifestieren.
SZ: Erst nehmen Sie uns den Willen, dann soll der Zuckerspiegel entscheiden, wie wir handeln: Wir halten uns doch zugute, gerade durch unser Bewusstsein ein Sonderfall der Evolution zu sein.
Singer: Der Wille wird nicht in Frage gestellt, und wir sind in vielen Aspekten etwas Besonderes, sonst hätten wir der biologischen nicht die kulturelle Evolution hinzugefügt. Ein Teil dessen, was unsere Entscheidungen beeinflusst, wird vom Bewusstsein erfasst, und wir können begründen, warum wir dieses oder jenes getan haben. Sehr oft liegen viele der Gründe, die uns zu einer bestimmten Entscheidung bringen, jedoch im Unbewussten. Wenn wir gefragt werden, geben wir stets Gründe an, aber die müssen nicht die eigentlichen sein …
SZ: … und hinterher sitzt man dann da mit einem neuen Camping-Anhänger.
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Quelle: Süddeutsche Zeitung
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